Eine Zeichnung, ganz vorne sind die Köpfe eines Pärchens zu sehen. Die Frau schmiegt sich an den Mann, die beiden tanzen offenbar. Die Augen haben sie geschlossen. Er mit Baskenmütze, sie mit hochgestecktem Haar und engem Halsband. Dahinter ein kräftig gebauter Mann mit Krug. Direkt vor ihm steht auf einem Stuhl ein Grammophon. Noch weiter hinten tanzen zwei Pärchen. Der Hintergrund ist einfärbig rot. © Wien Museum, Postkarte der Wiener Werkstätte: Tanzende und Grammophon, Moriz Jung, 1911.

Tanz­wü­ti­ge Ar­bei­ter:in­nen:

Frei­zeit un­ter Ver­dacht

Klar ist: In ihrer Freizeit dürfen die Arbeitnehmer:innen tun und lassen, was sie wollen. Aber ist das klar? Um 1900 ist das umstritten und überhaupt ist die Vorstellung einer „freien Zeit“ damals noch neu. 

1907 in Berlin: Ein Betriebsleiter antwortet auf eine Umfrage, die sich mit der Ermüdung durch Arbeit beschäftigt. Er ist sich sicher: Die Arbeiterschaft in seinem Betrieb ist nicht müde. Denn er hat bei Festen beobachtet, dass die Arbeiter:innen „munter darauflos tanzten bis in die frühe Morgenstunde“. Geheuer ist ihm das nicht. Wer ordentlich arbeitet, muss für so etwas doch zu erschöpft sein. Mit der Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten lässt er die Arbeitnehmer:innen daher abblitzen.

Vor der Industrialisierung leben, wohnen und arbeiten die Menschen oft am selben Ort. Das Haus ist auch Werkstatt oder Mittelpunkt eines Bauernhofs. Das ändert sich seit dem 19. Jahrhundert für viele Menschen und zuerst in den Städten. Mit „Arbeit“ ist bald nur noch bezahlte Lohnarbeit gemeint und die findet zunehmend außer Haus statt. Täglich endet die „Arbeit“ damit, dass Arbeiter:innen und Angestellte das Gebäude oder Betriebsgelände verlassen, wo sie ihre Erwerbsarbeit tun – dann beginnt die Zeit, die ihnen selbst gehört. Die Industrialisierung schafft dadurch eine neue Grenze im Alltag: Sie spaltet den Tag zwischen „Arbeitszeit“ und „Freizeit“.

Erlebnis statt Eintönigkeit

Arbeiterbewegungen kämpfen für ein besseres Leben der Arbeiter:innen: kürzere Arbeitszeiten, Urlaub und einen Lohn, der nicht nur zum Überleben reicht. Er soll auch eine Freizeit ermöglichen, in der die Menschen tun können, was sie wollen. Die wirtschaftliche Elite sieht das gar nicht gern und nennt ihre unzufriedenen Angestellten faul. Die Arbeiterbewegung und die Eliten streiten nicht nur darüber, wieviel Freizeit Menschen brauchen. Sie diskutieren auch darüber, wie die Menschen ihre Freizeit verbringen sollen. Tanzende Arbeiter:innen scheinen da ein Problem – ist doch nutzlos und moralisch bedenklich, wenn die durch die Nacht tanzen.

Zunehmend verbreitet sich die Einsicht: Arbeiter:innen brauchen auch Freizeit. © Wien Museum, Postkarte der Wiener Werkstätte: Schlafender Mann mit Grammophon, Moriz Jung, 1911.

Seit dem späten 19. Jahrhundert finden die Forderungen nach kürzerer Arbeitszeit eine Unterstützung, die über die Arbeiterbewegung hinausreicht. Argumente liefert auch die entstehende Arbeitswissenschaft. Ihr geht es darum, die Leistungsfähigkeit der Arbeiterschaft für die Unternehmen zu sichern. „Leistung“ stellt man sich ganz nach den Gesetzen der Physik vor: Wenn die Energie verbraucht ist, geht nichts mehr. Langsam kommt noch eine zweite Überlegung dazu: Auch „Gleichförmigkeit“ schadet. Um mit „Energie“ zu arbeiten, benötigen Arbeiter:innen einen Ausgleich zu eintöniger Arbeit: spannende Erlebnisse – z. B. beim Tanzen im Club. Dass solche Erlebnisse auch ihren eigenen Wert haben, ist nicht Teil der Diskussion.

Zeitstrahl 1907 © wasbishergeschah.at