Ein Liebespaar spaziert um 1908 durch den Prater in Wien. © Brüder Kohn KG (B. K. W. I.), Wien Museum

"Geh nicht blind in die Ehe!"

Eheberatung im Roten Wien.

Wie lassen sich in einer Stadt Seuchen bekämpfen? Der Wiener Gesundheitsstadtrat Julius Tandler meint: durch Eheberatung.

Zwei Ehewillige erscheinen in der Beratungsstelle im Wiener Rathaus. Sie lassen sich untersuchen und erhalten ein Gutachten: Die „Ehefähigkeit“ besteht nicht, da der Mann an Syphilis erkrankt ist. Die Kinder sollen nicht die „Verfehlungen [der Eltern] zu büßen haben“, schreibt Julius Tandler in einer Broschüre. 

Bevor Liebespaare den Bund fürs Leben eingehen, klärt die Eheberatung über gesundheitliche Aspekte auf. © Die Unzufriedene vom 16.05.1925, ÖNB

„Seuchenherd“ Wien

Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Leben in Wien hart. Hunger greift um sich. Die Wohnungen sind eng, finster, oft feucht und kalt. Sie machen die Menschen krank. Jede vierte Person in Wien stirbt an Tuberkulose. Die Rachitis ist als Kinderkrankheit gefürchtet und heimkehrende Soldaten bringen Ruhr und Typhus mit. Auch Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und Tripper breiten sich aus.

Das Ziel der Eheberatung: „Gesunde Menschen“

Unter diesem Eindruck will die Sozialdemokratie den Sozial- und Gesundheitsbereich reformieren. Bei den ersten demokratischen Gemeinderatswahlen in Wien erringt sie 1919 die absolute Mehrheit. Als Stadtregierung kann sie sich ans Werk machen.

Im Vordergrund steht die Verhinderung von Krankheiten, auch von sexuell übertragbaren und vererbbaren Krankheiten. Deshalb richtet die Stadt Wien Beratungsstellen ein. Die erste „Gesundheitliche Beratungsstelle für Ehewerber“ wird im Juni 1922 im Wiener Rathaus eröffnet.

„Drum prüfe, wer sich ewig bindet!“

Ehewillige sollen die Beratungsstelle aufsuchen, bevor sie den Bund fürs Leben eingehen. Die Stelle soll aber auch bereits verheirateten Menschen helfen, die „an kranken Ehen“ oder „sexueller Not“ leiden. Die Berater klären vor allem über gesundheitliche Fragen auf. Krankheiten nehmen sie als Hemmnis für „gesunde Ehen“ wahr. Sie empfehlen Menschen mit „minderwertigen Erbanlagen“ keine Kinder zu kriegen.

Niemand wird gezwungen, sich beraten zu lassen oder gar die Ratschläge zu befolgen. Trotzdem üben die Berater sanften Druck aus, indem sie an das Verantwortungsgefühl appellieren.

„Das Ideal ist also ein zweifaches: ein rein gesundheitlich-hygienisches und ein erzieherisches”, erklärt der Arzt Karl Kautsky, der die Beratungsstelle leitet.

Der große Ansturm bleibt aus. Die meisten Menschen sehen nicht ein, wozu sie die Beratung der Stadt für ihre Ehe brauchen sollen. Bis 1929 kommen nur 892 Ratsuchende in die Beratungsstelle. Die meisten wollen zudem keinen gesundheitlichen Rat, sondern Aufklärung über Verhütung und Abtreibung. 

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