Ein Platz, auf dem Kutschen, Pferde und Fußgänger:innen unterwegs sind. Dahinter ein u-förmiges Haus mit Hof in der Mitte. Die Fassade des Hauses ist Gelb. Eine hohe Mauer verhindert den Blick in den Innenhof. © Wien Museum, CC BY 4.0 Atelier Stiegler/Massard, Findelhaus, Carl Pippich, 1880–1890

Le­di­ge Müt­ter

und die „k. k. Mord­an­stalt“

Im 19. Jahrhundert sind die meisten ledigen Mütter Dienstbotinnen und Tagelöhnerinnen. Sie werden verachtet und leben in Armut. Viele übergeben ihr Kind dem Findelhaus zur Pflege. Nur wenige Kinder überleben.

23. Dezember 1895 in Floridsdorf am Rand von Wien: Die Dienstmagd Agnes Maschek hat ein uneheliches Kind, das sie nicht ernähren kann. Sie würgt das drei Monate alte Mädchen, bis sie es für tot hält. Dann legt sie das Baby eingehüllt in ein Stück Stoff vor die Tür eines Wohnhauses. Noch ist es am Leben. Mehrere Leute sehen das Bündel, aber beachten es nicht. Eine Frau glaubt, es ist ein Sack Kohle und stößt es mit ihren Holzpantoffeln wie einen Ball gegen eine Wand. Daran stirbt das Kind. Agnes wird ausgeforscht und wegen versuchten Mordes angeklagt.

Uneheliche Kinder sind damals häufig. Mitte des 19. Jahrhunderts kommt jedes zweite Kind in Wien außerhalb der Ehe zur Welt. Die verzweifelte Situation von Agnes ist daher kein Einzelfall. Ledige Mütter arbeiten hart, verdienen aber nur wenig. Sie sind schlecht ernährt und ihre Wohnsituation ist elend. Kirche und Staat werfen ihnen fehlende Moral vor. Daher interessiert es das Gericht, dass Agnes den Vater ihres Kindes „bei der Musik im Prater” kennengelernt hat.

Das Wiener Gebär- und Findelhaus – der Staat ein Rabenvater

Fälle wie der von Agnes dienen aber seit dem späten 18. Jahrhundert auch als Argument für Reformen. Heftig wird über „Kindesmord” als eine besonders abscheuliche Tat von Frauen diskutiert. Um solche Morde zu verhindern, hält es die Obrigkeit für gerechtfertigt, ledigen Müttern einen Ausweg zu bieten. Der Staat betreibt daher ein Gebär- und Findelhaus in Wien.
Schwangere können hier ihr Kind zur Welt bringen, ohne dafür bezahlen zu müssen.

Auch die Tochter von Agnes wird in der Anstalt geboren. Außerdem können Frauen ihre Kinder dem Findelhaus zur Pflege übergeben. Die „Findelkinder” haben allerdings kaum eine Chance. Sie bekommen wenig zu essen, es fehlt an allem. Anfangs überlebt fast keines der Kinder diese ,Pflege’. Um 1900 stirbt immer noch die Hälfte aller Findelkinder.

Um 1900 überleben nur 50 Prozent der Kinder im Findelhaus. © Belvedere, CC BY 4.0 Wien, Junge Mutter, Öl auf Leinwand, Josef Jungwirth, 1907

Keine Unterstützung für Migrantinnen aus Mähren

In dem Geburtshaus bringen auch viele Frauen ihr Kind zur Welt, die aus Böhmen, Mähren und dem ländlichen Niederösterreich stammen. In der Großstadt suchen sie einen Platz als Hausangestellte. Auch Agnes ist zugewandert. Sie lebt in Wien, doch sie ist weiterhin nach Mähren „zuständig”, wie man das damals nennt. In Wien will man aber nicht die Kosten für Mütter aus Mähren übernehmen. Agnes muss das Gebär- und Findelhaus daher wenige Tage nach der Geburt wieder verlassen. Sie darf außerdem ihre Tochter nicht als Findelkind in staatliche Pflege geben.

Der Richter fragt Agnes beim Prozess, warum sie versucht hat ihr Kind zu töten. Ihre Antwort: „Aus Not!“ Sie wird zu fünf Jahren „schweren Kerkers” verurteilt.

Zeitstrahl 1895 © wasbishergeschah.at