Die Idee ist revolutionär und weckt daher scharfe Kritik: Eine Wohnung ohne Küche? Im konservativen Deutschen Kaiserreich will man(n) sich das nicht vorstellen. „Eigener Herd ist Goldes wert“, lautet damals ein Sprichwort. Der Herd ist ein Symbol für die bürgerliche Traumfamilie, in der sich die Ehefrau um den Haushalt kümmert und ihr Mann für das Einkommen sorgt. Doch dieses Familienbild hat mit dem Alltag der meisten Menschen wenig zu tun. Damit die Familie über die Runden kommt, müssen auch verheiratete Frauen Geld verdienen: in der Fabrik, als Verkäuferin im Laden, durch Nähen oder Wäschewaschen für andere. Zusätzlich müssen Ehefrauen aber auch noch ihren Mann bekochen, Kinder versorgen, Wäsche waschen und die Wohnung sauber halten.
Schöner Wohnen: „von Kochherd und Waschfass befreit“
Vor Lily Braun haben auch andere schon überlegt, die Hausarbeit gemeinschaftlich zu organisieren, anstatt sie als heilige Verpflichtung von Frauen zu behandeln. Aber ihre Schrift „Frauenarbeit und Hauswirtschaft“ erregt großes Aufsehen. Mit ihrem „Einküchenhaus“ will Braun nicht nur den „schädlichen Dilettantismus in der Küche“ beenden; sie will darüber hinaus auch weitere Aufgaben bündeln, um sie aus den Familien auf bezahlte Arbeitskräfte auslagern zu können. Die Kosten dafür sollen im Mietpreis enthalten sein. So soll das Wohnhaus z.B. eine Wäscherei und eine zentrale Heizung bieten. Für die Kinderbetreuung sorgt geschultes Personal auf eigenen Spielplätzen, um die Kinder „vom Einfluss der Straße und der traurigen Frühreife der Stadtkinder“ zu schützen. Auf diese Weise soll das Einküchenhaus die Hausarbeit der einzelnen Bewohnerinnen auf ein Minimum reduzieren. Lily Braun ist überzeugt: Dadurch wird den Frauen mehr Zeit bleiben, um am sozialen Leben teilzunehmen.