Das Bild ist zweigeteilt. Ein Wegweiser im Vordergrund zeigt zwei Wege auf einen Berg hinauf. Nach links geht es zu „Tod und Verdammnis”. Ein Schild am Eingang des Wegs weist ihn als „Reich der Welt” aus. Viele Menschen in teurer Kleidung gehen diesen breiten Weg entlang. Er führt an einem Theater, einem Casino und einem Gasthof vorbei. An seinem Ende befindet sich eine rot brennende Festung: die Hölle. Der rechte Weg ist als „Reich Gottes” ausgeschildert. Der schmale Weg verspricht „Leben und Seligkeit”. Ihn gehen nur wenige Menschen in einfacher Kleidung. Am Weg stehen zwei Kirchen und eine Sonntagsschule. An seinem Ende wartet eine goldene Stadt in den Wolken: das Paradies. © Wikimedia, Paul Beckmann, Der breite und der schmale Weg, 1866

Kei­ne Angst

vor Gespenstern

Ein evangelischer Pfarrer träumt von seiner verstorbenen Frau. Für ihn ist klar: Was er sieht, ist echt. Es ist das Leben nach dem Tod.

Wer fürchtet sich noch vor Geistern? Neben den Monstern aus Horrorfilmen kommt einem jedes Gespenst harmlos vor. Philipp Matthäus Hahn war vor 250 Jahren nicht von Gruselfilmen abgehärtet. Angst verspürt der Pastor trotzdem keine, wenn er immer wieder seiner toten Frau Anna Maria begegnet. Er trifft die Verstorbene nur in seinen Träumen. Den Ablauf schreibt er in seinem Tagebuch auf. 

Hahn glaubt, dass ein enthaltsames Leben in den Himmel führt - aber hat man dort einen Körper? © Wikimedia, Paul Beckmann, Der breite und der schmale Weg, 1866

In einem dieser Träume ist das Paar in einer Gaststätte. Das Lokal ist völlig überfüllt. Hahn versucht Anna Maria davon zu überzeugen, dass sie mit ihm den Ort verlässt. Sie weigert sich. 

Indem der Pfarrer in sein Tagebuch schreibt, verarbeitet er den Verlust seiner Ehefrau. In vielen Träumen kommen Konflikte zwischen den beiden vor. Das Verhältnis des Ehepaars zueinander war schwierig. Indem Hahn seine Träume wiedergibt, kann er das zugeben.

Phillip Matthäus Hahn schreibt von 1772 bis 1790 fast jeden Tag Tagebuch. © Wikimedia, Johann Phillip Weisbrot, Porträt des Phillipp Matthäus Hahn, 1773

Ein neuer Körper im Leben nach dem Tod

Die Schmerzen einer Toten sind für Hahn nicht absurd. Im Gegenteil: Der Traum zeigt, wie das Leben nach dem Tod aussieht. Die Verstorbenen haben weiterhin einen Körper. Er kann durstig oder krank sein. Die Toten glauben, dass sie immer noch leben. Sie wohnen mit Familie und Freunden zusammen. 


Im 18. Jahrhundert sind Wirklichkeit und Traum nicht komplett voneinander getrennt.

Hahn hat religiöse Texte über die Wiederauferstehung geschrieben. Er behauptet, dass die verstorbenen Menschen beim Weltende von Gott einen neuen Körper bekommen. Das Leben nach dem Tod im Traum ähnelt diesen Überlegungen sehr. Haben die Träume die religiösen Überzeugungen des Pfarrers beeinflusst? Oder verwerten die Träume, was Hahn tagsüber gedacht hat? Wahrscheinlich stimmt beides.

Was erzählen Träume?

Träume gelten inzwischen als Zeichen von unterbewussten Gedanken und Wünschen. So kann man auch die Eintragungen im Tagebuch von Philipp Matthäus verstehen. Sie sind aber auch mehr. Er setzt sich mit der Trauer und dem Leben nach dem Tod auseinander. 

Zeitstrahl 1775 © wasbishergeschah.at