Wien an einem Sonntag in den 1780er-Jahren: Um den Wiener „Narrenturm“ haben sich einige Leute versammelt, die einen lustigen Nachmittag erleben wollen. Durch die Fenster beobachten sie die Insassen, die im Turm eingesperrt sind, weil sie als wahnsinnig gelten: Die Schaulustigen lachen über das Gebrüll, das die „Irren“ von sich geben.
Wenn einmal nichts zu sehen ist, helfen sie nach: Laut rufen sie Beleidigungen und hoffen, dass die Eingesperrten zu toben anfangen. Ein Zuschauer geht noch weiter: Mit einem Stock pikt er einen Insassen, der in der Fensternische steht und hinausstarrt. Die Menge lacht.
Menschen mit psychischen Erkrankungen, aber auch Menschen mit Behinderungen gelten damals als gefährliche „Irre“, die man von der Gesellschaft fernhalten muss. Den Habsburger-Kaiser Joseph II. besorgt eines besonders: Welchen Einfluss hat es auf Jugendliche und schwangere Frauen, wenn sie in Kontakt mit „Irren“ kommen? Darum lässt er in Wien einen Turm bauen, in dem Menschen mit psychischen Erkrankungen leben – weggesperrt von der restlichen Bevölkerung.
Schon damals wundern sich viele Menschen über die seltsame Form des „Narrenturms“. Das kreisrunde Gebäude ähnelt eher einer Festung als einem Spital. Gebaut wurde es nicht nach medizinischen Kriterien, sondern nach dem Geschmack des Kaisers.
Alles am Turm zielt darauf ab, die Insassen zu isolieren und Kontakte zur Bevölkerung zu verhindern: In den kleinen Zimmern lebt oft nur eine einzige Person. Gemeinschaftsräume oder Speisezimmer gibt es nicht. Sogar das medizinische Personal soll sich so weit wie möglich von den Patient:innen fernhalten. Selbst die modernen Toiletten mit Ablauf in jedem Zimmer gibt es hauptsächlich deshalb, damit die Pfleger:innen nicht den Raum zum Nachttopf-Leeren betreten müssen.
All diese Bemühungen scheitern jedoch an der Faszination, die der Turm auf die Bevölkerung ausübt: Für viele Menschen aus Wien wird das „Narrenschauen“ eine beliebte Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen. Für Reisende sind die „Irren“ im Narrenturm eine Sehenswürdigkeit.
Nach dem Tod von Kaiser Joseph II. Im Jahr 1790 wird der Narrenturm nach und nach umgestaltet. Ein neuer Krankenhausdirektor erkennt das Problem, dass die Patient:innen ständig von Schaulustigen gequält werden. Er lässt die Fugen in der Fassade der untersten zwei Stockwerke füllen, damit niemand mehr an den Wänden des Turmes hinaufklettern kann. 1796 lässt er außerdem eine dreieinhalb Meter hohe Mauer um den Turm bauen – nicht um Kranke einzusperren, sondern um Zuschauer:innen loszuwerden.
Daniel Vitecek, Der Wiener Narrenturm. Die Geschichte der niederösterreichischen Psychiatrie von 1784 bis 1870, Wiesbaden 2023.
Herbert Posch, Narrenturm, in: Herbert Posch/Markus Stumpf/Linda Erker/Oliver Rathkolb (Hg.), Vom AKH zum Uni-Campus, Wien 2015, 84–87.