Basel, 1911: Als der Vater der siebzehnjährigen Anny Morf nach Hause kommt, ist er betrunken und gewalttätig: Er zerstört die Möbel in der gemeinsamen Wohnung und schlägt seine Tochter. Doch sogar in diesem Moment denkt Anny nicht daran, wegzurennen. Zuerst muss sie die Nähmaschine retten. „Ich hatte große Angst, er würde die Nähmaschine auch zerstören“, erzählt sie später. Denn die Nähmaschine von Singer ist teuer – und noch nicht abbezahlt.
Ende des 19. Jahrhunderts arbeiten viele Frauen als Näherinnen, um von zu Hause aus zum Familieneinkommen beizutragen. Das entspricht den damaligen Geschlechterrollen in Europa: Geldverdienen soll der Mann als Erhalter der Familie. Frauen sollen hingegen am besten überhaupt nicht erwerbstätig sein – und wenn es doch sein muss, dann zumindest nicht außer Haus. Für die Näherinnen heißt das aber: Jede ist für sich in ihrer Wohnung mit der Auftragsarbeit alleine. Das erschwert es ihnen miteinander Kontakt aufzunehmen und sich gegen Ungerechtigkeiten zu organisieren.