Eine Frau sitzt an einer Singer-Nähmaschine und näht.  © Wikimedia.

Die Näh­maschine

als Schulden­falle

Ratenkäufe sind oft der Einstieg in dauerhafte Verschuldung. Im 19. Jahrhundert schaffen sich Frauen Nähmaschinen auf Kredit an, um als Näherin arbeiten zu können. Sobald sie die Maschine in der Wohnung haben, stehen sie unter riesigem Arbeitsdruck. Trotzdem können viele die Raten nie abbezahlen.

Basel, 1911: Als der Vater der siebzehnjährigen Anny Morf nach Hause kommt, ist er betrunken und gewalttätig: Er zerstört die Möbel in der gemeinsamen Wohnung und schlägt seine Tochter. Doch sogar in diesem Moment denkt Anny nicht daran, wegzurennen. Zuerst muss sie die Nähmaschine retten. „Ich hatte große Angst, er würde die Nähmaschine auch zerstören“, erzählt sie später. Denn die Nähmaschine von Singer ist teuer – und noch nicht abbezahlt. 

Näharbeit als Frauen- und Heimarbeit

Ende des 19. Jahrhunderts arbeiten viele Frauen als Näherinnen, um von zu Hause aus zum Familieneinkommen beizutragen. Das entspricht den damaligen Geschlechterrollen in Europa: Geldverdienen soll der Mann als Erhalter der Familie. Frauen sollen hingegen am besten überhaupt nicht erwerbstätig sein – und wenn es doch sein muss, dann zumindest nicht außer Haus. Für die Näherinnen heißt das aber: Jede ist für sich in ihrer Wohnung mit der Auftragsarbeit alleine. Das erschwert es ihnen miteinander Kontakt aufzunehmen und sich gegen Ungerechtigkeiten zu organisieren. 

Anny Morf muss ihre Nähmaschine jahrelang abbezahlen. Später wird sie eine wichtige sozialistische Frauenrechtlerin. © Wikimedia.

Singer: Ein System der Kontrolle 

Mitte des 19. Jahrhunderts macht das New Yorker Unternehmen „Singer“ die Nähmaschine zum Massenprodukt. Rasch entwickelt sich die Firma zu einem Konzern, der auch in Europa tätig wird. Die neuen Maschinen beschleunigen das Nähen enorm. Die meisten Frauen haben aber zu wenig Geld, um sich eine solche Maschine zu kaufen. Um die Geräte trotzdem verkaufen zu können, bietet ihnen die Firma Singer eine Lösung: den Kauf auf Raten. Frauen können so als Näherin Geld dazuverdienen und den Preis der Maschine nach und nach abbezahlen. 

Näharbeit wird damals wie heute hauptsächlich von Frauen gemacht. © Wikimedia

Ist somit alles bestens? Die Frauen haben nun Schulden bei dem Hersteller und stehen unter riesigem Druck. Das ist auch beabsichtigt, denn das soll die Frauen zwingen, sehr viel und sehr schnell zu nähen. Die Maschine wird daher intensiv benützt. Bald benötigt sie Reparaturen und oft geht sie kaputt, bevor die Raten abbezahlt sind. Auch dafür hat der Hersteller eine Lösung: den Eintausch gegen eine neue Maschine. Der Restwert der kaputten Nähmaschine entspricht dabei genau der Anzahlung für die neue Maschine. So bleiben Näherinnen auf Dauer Schuldnerinnen des Produzenten.

Um die Ratenzahlungen einzutreiben, baut der Nähmaschinenhersteller ein System von engmaschigen Kontrollen auf. Sogenannte „Kassierer“ stehen jede Woche bei den Näherinnen vor der Tür und tragen die bezahlten Raten in ein kleines Buch ein. Der Kassier erinnert die Näherinnen an ihre Abhängigkeit. Wenn Näherinnen mit den Zahlungen in Verzug geraten, droht er ihnen mit der Pfändung. Die größte Sorge vieler Näherinnen ist es daher, dass sie krank werden und ihre Schulden bei den Nähmaschinenfabrikanten nicht begleichen können. Wird ihnen die Maschine abgenommen, bringt sie das um ihre Existenz. 

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