Vier Kinder gehen am Straßenrand entlang, jedes hat eine Tasche in der Hand.  © Wikimedia.

„Hiebe statt Liebe“ – 

Vom Auf­wachsen der „Wiener Kinder“ in bäuer­lichen Groß­pflege­familien

Zwischen 1955 und 1970 schickt das Jugendamt tausende Wiener Kinder zu „Großpflegefamilien“ auf dem Land. Dort erwartet sie eine Kindheit voller Armut, Ausgrenzung und Gewalt. Ihre Geschichten werden verschwiegen und vertuscht. 

November 1960: Das Jugendamt bringt den einjährigen Albert Riedl in das Wiener Zentralkinderheim. Der Grund: Unhygienische Zustände in dem Barackenlager im 14. Bezirk, in dem er mit seiner Mutter wohnt. Aber wohin mit Albert? Die Versorgung im Kinderheim ist der Stadt zu teuer und in Wien gibt es kaum Pflegeplätze. Im Juli 1962 entscheidet das Amt: Albert soll aufs Land, zu einer Großpflegefamilie in der Südsteiermark. Dort wird er die nächsten elf Jahre seines Lebens verbringen. 

Im Kinderheim bekommen viele Kinder keinen Platz. © Wikimedia

Das System „Großpflegefamilie“

Albert ist kein Einzelfall. Er ist eines der Wiener Kinder, die ab den 1950er-Jahren zu Großpflegefamilien aufs Land geschickt werden. Vom Wiener Jugendamt heißt es, die Großpflegefamilien bieten den Kindern die „bestmögliche Familienatmosphäre“.  Zuwendung und Liebe finden die Kinder jedoch selten. Die Bauernfamilien in den armen Dörfern kümmert eher das erhaltene Pflegegeld als die Sorge um die Kinder. Kommt eines der Pflegekinder weg, wird sofort nachbesetzt. Eine Mitarbeiterin der Jugendfürsorge berichtet:
„Die haben das [Kind] genommen, so wie man halt eine Ziege oder eine Kuh nimmt.“

In den Pflegefamilien am Land müssen die Kinder hart arbeiten. Oft werden sie misshandelt. © ÖNB Bildarchiv.

Die Pflegeeltern brauchen das Geld und die zusätzlichen helfenden Hände am Hof. Das Jugendamt will Kosten einsparen. Die Leidtragenden sind die Kinder. Mit bis zu neun anderen Pflegekindern hausen sie auf den kleinen, heruntergekommenen Bauernhöfen. Sie bekommen weniger Essen und schlechtere Kleidung als die leiblichen Kinder. Zwar gehen die Pflegekinder zur Schule, doch niemand interessiert sich für ihre Ausbildung. Gut genug sind sie in den Augen der Pflegeeltern nur für die Mitarbeit am Hof. „Viecher sind dort besser behandelt worden“, erinnert sich Albert Riedl. 

Ausgrenzung und Gewalt

In den Familien und im Dorf werden Pflegekinder ausgegrenzt und als „Fürsorgekrüppel“ beschimpft. Zudem gehört massive körperliche Gewalt für viele Pflegekinder zum Alltag. Albert Riedl wird mehrmals von seinem Pflegevater und dessen Sohn bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt und gewürgt. Ein großer Teil der Pflegekinder wird wiederholt Opfer von sexueller Gewalt.

 Vergessen, Verschwiegen, Vertuscht

Bei ihren Kontrollen in den Pflegefamilien bemerken die Beamten des Jugendamts nichts von diesen Zuständen. Dafür sorgen die Pflegeeltern: Die Kinder werden durch Drohungen zum Schweigen gebracht. Das Jugendamt scheint sich aber auch nicht über die schweigsamen, verstörten Kinder zu wundern. Erst Ende der 70er-Jahre wird das System der Pflegefamilien reformiert. Von den Behörden werden die Misshandlungserfahrungen nie aufgebarbeitet. Viele ehemalige Pflegekinder leiden bis heute an den traumatischen Erlebnissen in ihrer Kindheit.

Zeitstrahl 1960 © wasbishergeschah.at