Mehrere jugendliche Burschen sitzen und stehen an einer Uferkante des Wiener Donaukanals. Im Hintergrund ist der Donaukanal von Häusern und Bäumen gesäumt. Der helle Himmel spiegelt sich im Wasser des Kanals.  © Harry Weber, ÖNB Bildarchiv.

Polizei­überfall

auf tan­zen­de Jugend­liche

Arbeiterjugendliche tanzen am Donaukanal und werden von der Polizei überfallen. Die Zeitungen toben. Nur ein Journalist hat Verständnis.

6. August 1957, Donaukanal, Wien Leopoldstadt: 50 bis 70 Jugendliche tanzen unter der Augartenbrücke Rock’n’Roll. Die Musik kommt nicht wie heute von Handys und Bluetooth-Lautsprechern, sondern die Jugendlichen haben zwei Koffergrammophone dabei. Diese tragbaren Plattenspieler sorgen für Stimmung. 
Auf der gegenüberliegenden Seite des Donaukanals fährt die Stadtbahn und ist lauter als die Musik. Trotzdem beschweren sich Anrainer und rufen die Polizei. Die kommt mit Streifenwagen. Die meisten Jugendlichen können flüchten, doch fünf Burschen und zwei Mädchen werden verhaftet. 
Unter einer Brücke am Donaukanal tanzen die Jugendlichen Rock’n’Roll. Von der Presse werden sie dafür als kriminell dargestellt. © Harry Weber, ÖNB Bildarchiv.

Staat und Medien gegen die „Halbstarken“

Am Polizeikommissariat Leopoldstadt werden sie zu ein oder mehreren Tagen Polizeiarrest verurteilt. Diese Strafe hat das nationalsozialistische Regime eingeführt und gegen aufmüpfige Jugendliche – die sogenannten „Schlurfs“ – eingesetzt. Die Republik hat das beibehalten. Die Zeitungen toben und verurteilen die „Rowdies“. Fast jeden Tag erscheinen damals Artikel gegen die „Halbstarken“, die „Schlurfs“ und die „Plattenbrüder“. „Platte“ ist ein alter Wiener Ausdruck für Jugendgruppen in den Arbeiterbezirken. Manchmal sind damit aber auch Banden von kleinen Gaunern gemeint. Kriminelle oder Jugendliche, die sich zum Vergnügen in Parks oder auf der Straße treffen – für die Presse macht das keinen Unterschied. Sie wirft alle in einen Topf.  

Ein Journalist versteht die Jugendlichen

Unter den Journalisten gibt es aber eine Ausnahme: Der Fotoreporter Harry Weber arbeitet für die Wochenzeitung „Stern“. Er möchte die andere Seite hören: Wenige Tage nach dem Polizeieinsatz geht er zur Augartenbrücke und spricht dort mit den Jugendlichen. Eine davon ist eine Hilfsarbeiterin, die fürs Rock’n’Roll-Tanzen vier Tage Arrest ausgefasst hat. Die Zeitungen bezeichnen sie als „Halbstarken-Braut“, als weiblichen „Boß“ der Jugendlichen. Margit ist 17 Jahre alt, hat einen 15-jährigen Freund und arbeitet in einer Floridsdorfer Fabrik. 

Die 17-jährige Hilfsarbeiterin Margit wird in der Presse als „Halbstarken-Braut“ verunglimpft. © Harry Weber, ÖNB Bildarchiv.

Harry Weber gewinnt das Vertrauen der Jugendlichen und kann sie fotografieren. Sie erzählen: Viele arbeiten schon, leben aber noch bei ihren Eltern in engen Wohnungen. Die Lokale sperren zu spät auf, die Tanzschulen spielen keinen Rock'n'Roll, sondern nur Tango. Wo sonst als im Freien sollen sie ihre Musik hören?

Harry Weber erinnert sich noch an den Zweiten Weltkrieg und schreibt: „Vor 12 Jahren drückte man Gleichaltrigen Maschinengewehre in die Hand“ – Besser sie machen Lärm und tanzen.

Zeitstrahl mit historischen Ereignissen - 1958 ist hervorgehoben. © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Harry Weber: Ich ging mit Halbstarken, in: Der Stern. Ausgabe für Österreich, 24.8.1957, 8 f., 30.