In den 60ern ist die BRAVO noch vorsichtiger. Zwar will sie ihre Leser:innen mit Tipps versorgen, aber die Jugendlichen sollen in den Artikeln von „Dr. Vollmer“ in erster Linie erfahren, wie sie sich auf eine „anständige Ehe“ vorbereiten können. „Dr. Vollmer” erklärt: Buben sind triebgesteuert und wollen Sex. Mädchen wollen Zärtlichkeit und müssen ihre Jungfräulichkeit verteidigen. Gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Sex vor der Ehe lehnt „Dr. Vollmer“ sowieso ab. Er warnt: „Fast in jeder Party steckt der böse Keim, der aus einem harmlosen Treffen junger Leute eine Orgie machen kann.“
Doch die prüden Ratschläge gehen an den Bedürfnissen der Leser:innen vorbei. Denn auch damals haben viele Jugendliche Sex, ohne erst auf eine Heirat zu warten. Selbst „Dr. Vollmer“ muss zugeben: „Viele von Euch halten mich für altmodisch, prüde oder überstreng.“
Altmodisch zu wirken kann sich die BRAVO aber nicht leisten. Um ihre Leser:innen zu halten, stellt die Zeitschrift gegen Ende der 60er-Jahre neue Ratgeber:innen ein. Einer davon ist der Arzt, Psychotherapeut und evangelische Religionslehrer Martin Goldstein. Unter den Namen „Dr. Sommer“ und „Dr. Korff“ geben er und sein Team Tipps zu Sex, Beziehungen und Erwachsenwerden.
Goldsteins eigene Jugend war allerdings ganz anders als die seiner Leser:innen: Er ist in der Zeit des Nationalsozialismus ein Teenager. Die Nazis sperren ihn in ein Zwangsarbeitslager, weil er als „Halbjude“ gilt. Nur knapp entkommt Goldstein der Ermordung, indem er sich wochenlang im Wald versteckt. „Ich hatte Angst vor der Gestapo, nicht vor dem Geschlechtsverkehr“, erzählt er später.
In der BRAVO fährt Goldstein eine ganze andere Linie als sein Vorgänger „Dr. Vollmer“. Sexualität vor der Ehe behandelt er nicht als Tabu – im Gegenteil. Es ist ihm wichtig, ohne Scham darüber zu reden. Er stellt klar, dass Homosexualität keine Krankheit ist – sondern eine gleichberechtigte Form der Sexualität. Das gefällt nicht allen: Gleich zwei Mal landet die BRAVO 1972 auf dem Index. Viele Eltern verbieten ihren Kindern, die Zeitschrift zu lesen.
Bei den Jugendlichen kommt die veränderte BRAVO aber sehr gut an – und prägt ihre Sicht auf Beziehungen und Sexualität mit. Das hat auch Schattenseiten: Nacktbilder führen vor, wie Männer und Frauen auszusehen haben – und erzeugen Druck. Platz für Identitäten abseits von „Mann“ und „Frau“ gibt es nicht. Viele Jugendliche geben für die BRAVO den Großteil ihres Taschengelds aus. Und wie soll man küssen, wenn man „Dr. Sommers“ Anleitung „Wie küsse ich richtig?“ nicht kennt?
Lutz Sauerteig, Die Herstellung des sexuellen und erotischen Körpers in der westdeutschen Jugendzeitschrift BRAVO in den 1960er und 1970er Jahren, Medizinhistorisches Journal 42 (2007), 142–179.