Trotzdem kommt es zu einem Prozess. Vor Gericht gibt der Angeklagte den Geschlechtsverkehr zu, verteidigt sich aber damit, dass er die Magd als unehrenhafte Frau bezeichnet. Die ausschließlich männlichen Richter verurteilen ihn trotzdem, er kommt aber mit einer Geldstrafe davon. Er wird auch nicht wegen seiner Gewalttat verurteilt, sondern wegen Ehebruchs.
Einen Fall von „Notzucht“ wollen die Richter nicht erkennen. So wird damals eine sexuelle Gewalttat benannt, über die wir als Vergewaltigung sprechen würden. Damit ist heute die Vorstellung verbunden, dass ein solcher Übergriff die Menschenwürde einer Frau verletzt. Den Gerichten des 16. Jahrhunderts ist das fremd. Ihnen geht es um Sünde und Ehre. Die verletzte Ehre kann auch dadurch wieder hergestellt werden, dass der Vergewaltiger die vergewaltigte Frau heiratet.
Sexuelle Gewalt braucht Helfer und Mitwisser
Vieles an dem Fall ist allerdings aus der Gegenwart bekannt. Zu sexueller Gewalt kommt es nicht nur an einsamen Orten. Regula ist nicht deshalb auf sich alleine gestellt, weil niemand sieht, was ihr angetan wird. Die Wirtsleute sind da, sie helfen bloß nicht. Im Gegenteil: Sie stellen sogar die idealen Bedingungen für die Gewalttat her. Dazu gehört auch, dass sie danach der Magd klipp und klar mitteilen, dass sie leugnen werden, was vorgefallen ist. Aus dem Opfer wird die angebliche Lügnerin. Es geht außerdem nicht nur um Sex, sondern um eine Demonstration von Macht. Die junge Frau aus der Unterschicht soll einsehen, dass ihre Beschreibung des Vorfalls wenig Chancen hat als Wahrheit anerkannt zu werden. Sie ist kein Mann und sie hat keinen Besitz. Das macht es leicht, ihre Ehre in Zweifel zu ziehen. Zwar kommt das Gericht zu dem Schluss, dass der Angeklagte Regula „verfelt“ hat. Die Richter meinen damit, dass er Geschlechtsverkehr mit ihr hatte. Doch sind die männlichen Richter auch der Ansicht, dass Regula dazu „allen Anlass“ gegeben hat. Dem Opfer ganz oder teilweise die Schuld zu geben ist auch damals die bequemste Lösung.