Portrait einer Frau mit hochgesteckten Haaren und weißer Bluse. Ihr Blick ist leer.  © Wikimedia

„Er hat mich verfelt“. 

Wie im 16. Jahr­hundert sexuelle Gewalt weg­erklärt wird

Im Oktober 2017 geht #Metoo um die Welt. Ein Gerichtsfall aus dem 16. Jahrhundert zeigt, wie Frauen sich damals wehren und sexuelle Gewalt als Übergriff benennen. Das wird ihnen aber noch schwerer gemacht, als es auch heute ist.

1539 in der Nähe von Zürich in der Schweiz: Die Magd Regula Studer betritt ein Wirtshaus. Dort wird sie von einem Mann in eine Kammer gezwungen. Er sperrt die Tür zu und vergewaltigt sie. Niemand greift ein. Im Gegenteil – die Wirtsleute schließen die Fenster der Kammer und rauben der Magd damit auch diese Fluchtmöglichkeit.
Als sich Regula danach beklagt, droht ihr die Wirtsfrau, sie als Lügnerin hinzustellen. 

Auch heute sind Frauen nach einer Vergewaltigung oft mit der Angst konfrontiert, dass man ihnen nicht glauben wird. © Wikimedia

Trotzdem kommt es zu einem Prozess. Vor Gericht gibt der Angeklagte den Geschlechtsverkehr zu, verteidigt sich aber damit, dass er die Magd als unehrenhafte Frau bezeichnet. Die ausschließlich männlichen Richter verurteilen ihn trotzdem, er kommt aber mit einer Geldstrafe davon. Er wird auch nicht wegen seiner Gewalttat verurteilt, sondern wegen Ehebruchs.  

Einen Fall von „Notzucht“ wollen die Richter nicht erkennen. So wird damals eine sexuelle Gewalttat benannt, über die wir als Vergewaltigung sprechen würden. Damit ist heute die Vorstellung verbunden, dass ein solcher Übergriff die Menschenwürde einer Frau verletzt. Den Gerichten des 16. Jahrhunderts ist das fremd. Ihnen geht es um Sünde und Ehre. Die verletzte Ehre kann auch dadurch wieder hergestellt werden, dass der Vergewaltiger die vergewaltigte Frau heiratet.  

Sexuelle Gewalt braucht Helfer und Mitwisser 

Vieles an dem Fall ist allerdings aus der Gegenwart bekannt. Zu sexueller Gewalt kommt es nicht nur an einsamen Orten. Regula ist nicht deshalb auf sich alleine gestellt, weil niemand sieht, was ihr angetan wird. Die Wirtsleute sind da, sie helfen bloß nicht. Im Gegenteil: Sie stellen sogar die idealen Bedingungen für die Gewalttat her. Dazu gehört auch, dass sie danach der Magd klipp und klar mitteilen, dass sie leugnen werden, was vorgefallen ist. Aus dem Opfer wird die angebliche Lügnerin. Es geht außerdem nicht nur um Sex, sondern um eine Demonstration von Macht. Die junge Frau aus der Unterschicht soll einsehen, dass ihre Beschreibung des Vorfalls wenig Chancen hat als Wahrheit anerkannt zu werden. Sie ist kein Mann und sie hat keinen Besitz. Das macht es leicht, ihre Ehre in Zweifel zu ziehen. Zwar kommt das Gericht zu dem Schluss, dass der Angeklagte Regula „verfelt“ hat. Die Richter meinen damit, dass er Geschlechtsverkehr mit ihr hatte. Doch sind die männlichen Richter auch der Ansicht, dass Regula dazu „allen Anlass“ gegeben hat. Dem Opfer ganz oder teilweise die Schuld zu geben ist auch damals die bequemste Lösung.  
Zeitstrahl 1524 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Francisca Loetz, Them too? Überlegungen zur Erforschung sexualisierter Gewalt im frühneuzeitlichen Europa, in: L'homme: Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 32/2 (2021), 117–125.