Zeichnung, auf der Männer abgebildet sind, die Brezen, Würste oder Honig verkaufen. Ein Mann mit Hut, zusammengerollter Decke am Rücken und über die Schulter geworfene Schuhe. Ein Mann mit Jackett, der eine Zigarette raucht. Ausschnitt einer Volksküche, in der Menschen an Tischen essen.  © Wien Museum

Wandern,

um zu über­leben

Nach der abgeschlossenen Ausbildung auf Reisen gehen, neue Gegenden entdecken und neue Menschen kennenlernen. Ein Traum, den viele haben. Vor 150 Jahren war das aber auch bittere Notwendigkeit.

Wien, 1854: Ein „Ausrufer“ betritt eine Herberge für Arbeitslose. Beim Hofbäcker wird ein „Hausbursch“ gesucht. Er ruft in die Runde: „Wer hat Lust einzustehen?“ Ernst Hartung meldet sich. Er hat seinen Job verloren und ist auf das Geld angewiesen.

Hartung ist wenige Monate zuvor mit dem Dampfschiff von Pest in Ungarn nach Wien gekommen, um Arbeit zu finden. Er ist „auf der Walz“. Eigentlich will er von Wien weiter über Graz nach Triest und Venedig. Aber seine Pläne ändern sich, als er in Wien Arbeit findet. In einer Herberge vermittelt man ihn an einen Bäcker. Bei ihm lernt er mit Wagen und Pferd umzugehen, weil er Brot zu den Kunden fahren muss. Außerdem holt er Holz aus dem Tiergarten Schönbrunn. Damit wird der Bäckerofen geheizt. Die Arbeit ist gut, aber die Kost ist knapp. Hunger muss er immerhin keinen leiden.

Dann wird er mitten im Winter gekündigt. Wieder muss er Arbeit suchen. In der Herberge ergibt sich zum Glück bald eine neue Möglichkeit: Der Hofbäcker sucht einen Gehilfen.

Arbeitslos, Bettler, Vagabund oder Handwerker?

Damals sind viele Menschen auf den Straßen Österreichs unterwegs: Bettler:innen, Arbeitslose, Arme und Vagabunden. Sie haben eines gemeinsam: Über kurz oder lang sind sie arbeitslos. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied. Wandernde Handwerker sind unterwegs, um Arbeit zu finden. 

Wanderbuch, ausgestellt von dem Magistrat der königlichen Freistadt Ödenburg. Auf den Seiten ist eine Bezeichnung des Inhabers und ein Reifezeugnis abgedruckt. © Wikimedia
Wanderbuch, ausgestellt von dem Magistrat der königlichen Freistadt Ödenburg. Auf den Seiten ist eine Bezeichnung des Inhabers und ein Reifezeugnis abgedruckt. © Wikimedia

Seit dem Mittelalter gehört „auf der Walz sein“ zum Lebensweg von Handwerkern. Als fertig ausgebildete Gesellen wandern sie von Ort zu Ort und suchen nach Arbeit. Diese Erfahrung soll einen Handwerker ausmachen. Deshalb halten sich die Handwerker selbst nicht für Arbeitslose oder Bettler. Sie meinen, dass Sie etwas Anderes und Besseres sind. Leicht haben sie es aber nicht.

Unterstützung für Wanderer – Repression für Arme

In den 1880er-Jahren werden in einigen Ländern der Habsburgermonarchie sogenannte „Naturalverpflegstationen” geschaffen: Herbergen, die wandernden Arbeitern Unterstützung bieten sollen. Dort können sie schlafen, essen und sich austauschen. Oft finden sie von dort aus eine neue Arbeit. Die Regeln sind allerdings streng: Einchecken darf nur, wer kurz davor gearbeitet hat. Bleiben darf man bloß kurze Zeit. Danach ist es einem wandernden Arbeiter verboten, in derselben Herberge nochmals Schutz zu suchen. Abgesehen von den Herbergen können die wandernden Gesellen auch auf andere Hilfestellungen zurückgreifen: Handwerkerverbände geben Geld, Kolpingvereine bieten Schlafplätze. 

Die Herbergen dienen den wandernden Arbeitslosen auch als Stellenvermittlung. © Wien Museum

Auch die Behörden behandeln die Handwerker besser als Vagabund:innen oder Bettler:innen. Diese werden von der Polizei verfolgt. Als wandernder Handwerker bleibt man unbescholten.

In ihren Lebensbeschreibungen erinnern sich viele Handwerker an die Walz als eine ereignisreiche Zeit. Sie haben Abenteuer erlebt und wichtige Erfahrungen gemacht. Allerdings nicht nur gute. Die Arbeitssuche ist erniedrigend. Eine feste Anstellung bekommen die Gesellen meist auch nicht und oft genug müssen die Wanderer betteln oder Lebensmittel stehlen. Wer sich wie Ernst Hartung dafür entscheidet, wandern zu gehen, muss vor allem auch eines sein: jung. Nur wer keine Verpflichtungen hat und die Anstrengungen aushält, kann versuchen, auf diesem Weg sein Überleben zu sichern.

Zeitstrahl 1931 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Sigrid Wadauer, Vazierende Gesellen und wandernde Arbeitslose (Österreich, ca. 1880–1938), in: Annemarie Steidl/Thomas Buchner/Werner Lausecker/Alexander Pinwinkler/Sigrid Wadauer/Hermann Zeitlhofer (Hg.): Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion, Wien/Köln/Weimar 2008, 101–131.