Entlang einer Straße sind größere und kleinere Häuser zu sehen. Mehrere sind mit Hakenkreuzfahnen behängt. Quer über die Straße ist eine Tafel befestigt. Sie trägt die Aufschrift: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer”. © Josef Dick, 1938 (im Besitz von Friedrich Polleroß)

"Wenn ich die Augen zumache, sehe ich jetzt noch ihre hass­erfüllten Gesichter": 

Das November­pogrom in Neupölla

Die Geschichte der Familie Biegler zeigt, wie brutal die Novemberpogrome auch am Land waren. Die Dorfgemeinschaft bietet keinen Schutz – im Gegenteil.

9. November 1938 nachts in Neupölla, einem kleinen Dorf in Niederösterreich. Voller Angst steht die jüdische Familie Biegler hinter dem Haustor ihrer Greißlerei. Von draußen hören sie wütende Rufe. „Wir öffneten das große Tor und eine Horde von jungen Burschen verfluchte uns. Der Rädelsführer Johann Leidenfrost schlug meinem Vater mit der Faust ins Gesicht“, schildert Laura Biegler später. Zur Zeit der Pogromnacht ist sie noch sehr jung, aber auch sie wird verprügelt: „Das Blut floss nur so von meines Vaters Gesicht. Ich wollte ihn beschützen, dann bekam ichs.“ 

Was die Bieglers erleiden ist kein Einzelfall. Es hat System, auch im ländlichen Raum. Die jüdische Bevölkerung ist bereits entrechtet, aber mit dem Novemberpogrom verschärfen die Nationalsozialisten die Verfolgung weiter. Sie gehen noch brutaler vor. SS und SA führen an vielen Orten die Meute an. Gemeinsam zünden sie die jüdischen Bethäuser an und zerstören, was jüdischen Familien gehört. Die Bieglers haben ein kleines Geschäft. Die Hetzmeute schlägt dessen Fensterscheiben ein. Klirrend gehen die Scheiben zu Bruch. Kaputt. So wie das bisherige Leben der Familie. Für die NS-Propaganda sind die vielen zerschlagenen Scheiben Anlass, von einer „Reichkristallnacht” zu spotten. 

Die Familie Biegler im Jahr 1917. © Foto in Besitz von Friedrich Polleroß

Menschen aus der Nachbarschaft schimpfen, schlagen und rauben 

In Österreich wohnen die meisten Jüdinnen und Juden in Wien und werden hier Opfer von Gewalt und Raub. Aber den jüdischen Familien, die in Dörfern und Kleinstädten leben, geht es nicht besser. Denn hier kennt jeder jeden. 

Niemand entwischt dem Mob, seinem Zorn und seiner Gier.

„Es waren alles einheimische Burschen, mit denen meine Schwester und ich aufgewachsen sind und in die Schule gingen“, erinnert sich Laura Biegler. Mit Peitschen und Stöcken prügeln sie die Familie aus dem Haus und über den Dorfmarkt. Dabei schreien sie: „Juda verrecke im eigenen Drecke!“ 

Für die Nationalsozialisten und für alle, die beim Pogrom mitmachen, steht auch das Rauben ganz oben auf der Wunschliste. In der Pogromnacht wird jüdischen Familien oft alles Mögliche weggenommen: Bargeld und Schmuck, aber auch Tassen und Teller, Kommode und Bett, Teddybär und Spielzeugeisenbahn. In den darauffolgenden, Arisierungen zwingt man sie, Häuser und Betriebe zu verkaufen. Immer zu Spottpreisen. Laura Bieglers Eltern müssen ihr Haus in Neupölla auf diese Weise an einen Nachbarn abgeben.

Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Dorf und Kleinstadt

Das nationalsozialistische Regime nützt die Pogrome, um die am Land lebenden Jüdinnen und Juden zu vertreiben. Zuerst oft nach Wien. Dorthin flüchtet auch die Familie Biegler. Die NS-Bürgermeister prahlen, dass sie ihre Gemeinden „judenfrei“ gemacht haben.

Während der Novemberpogrome werden hunderte Jüdinnen und Juden ermordet und Tausende werden in Konzentrationslager deportiert. Laura Biegler entkommt nach London. So entrinnt sie dem Holocaust. Ihre Eltern Ida und Alois und ihre Schwester Ella Biegler werden 1942 deportiert und ermordet.

Laura Biegler bleibt auch nach dem Krieg in England, lebt also auf sichere Distanz zum Land ihrer Kindheit. Die Erlebnisse in der Nacht von 9. auf 10. November haben sich ihr aber tief eingebrannt. Auch viele Jahrzehnte später sagt sie: „Wenn ich die Augen zumache, sehe ich jetzt noch ihre hasserfüllten Gesichter.“

Die Familie Biegler muss nach den Novemberpogromen ihre Greißlerei (zweites Gebäude von links) verkaufen. © 1935, im Besitz von Friedrich Polleroß
Zeitstrahl 1938 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Friedrich Polleroß, Jüdisches Leben und Antisemitismus in Neupölla, in: derselbe (Hg.), Jüdische Familien im Waldviertel und ihr Schicksal, Horn 2018, 452–605.

Christoph Lind, „Der letzte Jude hat den Tempel verlassen“. Juden in Niederösterreich 1938–1945, Wien 2004.