Eine Menschenmenge neben Zugwaggons. © Wikimedia, Deportation to Treblinka from ghetto in Siedlce, 1942

Der Holocaust in Zahlen: 

Das Höfle-Telegramm

Der britische Geheimdienst fängt 1943 eine Botschaft ab, die das Ausmaß des laufenden Massenmords dokumentiert. Ihre Bedeutung wird aber erst viele Jahrzehnte später erkannt.

11. Jänner 1943: Konzentriert sitzt SS-Sturmbannführer Hermann Höfle beim Telegraphen. Er sendet gerade einen Funkspruch in „geheimer Reichssache“ an SS-Obersturmbannführer Franz Heim: den aktuellen Bericht zum „Einsatz Reinhardt“. So nennen die NS-Behörden die systematische Ermordung von Juden, Roma und Sinti, die sie während der Jahre 1942/43 im besetzten Polen durchführen. Dieser Massenmord ist ein zentraler Teil des Holocaust. Höfle bilanziert den Stand der Getöteten mit dem Stichtag 31. Dezember 1942: „zusammen 1.274.166“. Der britische Geheimdienst fängt den Funkspruch ab.

Formuliert ist das Dokument in einer sehr verkürzten Sprache: „Betr: 14-tägige Meldung Einsatz REINHART. Bezug: dort. Fs. Zugang bis 31.12.42, L 12.761, B 0, S 515, T 10.335, zusammen 1.274.166“. SS und Pol.führer LUBLIN, HOEFLE, Sturmbannführer.“ Die Bediensteten des britischen Geheimdiensts haben wahrscheinlich nicht verstanden, was hier der eine Nazi-Verbrecher dem anderen mitteilt. Woher hätten sie auch wissen sollen, wofür die Buchstaben vor den Zahlen stehen? Es sind die Abkürzungen für Mordstätten der Nationalsozialisten: das Konzentrationslager Lublin-Majdanek und die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka.

Österreicher leiten die Mordaktion

Die britischen Beamten erkennen somit nicht die Tragweite des Telegramms, das sie abgefangen haben: Es zeigt, dass die Nazis am Holocaust arbeiten, an der vollständigen Vernichtung großer Bevölkerungsgruppen. Hermann Höfle leitet und koordiniert die Mordaktion, die so harmlos „Einsatz Reinhardt“ heißt. Sein Telegramm ist das einzige, das genaue Zahlen zu den Morden in den einzelnen Lagern nennt. 

Der Britische Geheimdienst hat zwei Funksprüche abgefangen, beim ersten an Eichmann nur einen Teil. © Wikimedia, Telegramm eines stellvertretenden Kommandanten der Aktion Reinhardt, 1943

Der frühere Taxiunternehmer Hermann Höfle kommt aus Salzburg. Schon vor dem Anschluss ist er als illegaler Nationalsozialist aktiv und ist deshalb auch zeitweise im Gefängnis. Er wird schließlich Mitarbeiter des Stabs von Odilo Globocnik im polnischen Lublin. Globocnik kommt so wie auch Höfle aus Österreich und war so wie Höfle bereits vor 1938 bei der NSDAP. Überhaupt arbeiten in der Dienststelle in Lublin fast nur Österreicher in leitenden Positionen.

Mindestens 1,8 Mio Menschen ermorden Höfle und sein Team bis Oktober 1943 im Zug des „Einsatz Reinhardt“ in ihren Gaskammern. Das ist aber noch lange nicht das Ende ihrer Laufbahn als Massenmörder. Bis Kriegsende 1945 töten sie weiter: Höfle etwa bei der Mordoperation mit dem zynischen Namen „Aktion Erntefest” und Globocnik in Triest. Höfle kann sich nach der Niederlage Nazideutschlands der Strafjustiz entziehen. Erst 1961 wird er in Salzburg verhaftet. Im Gefängnis begeht er Selbstmord.

Sein Telegramm vom 11. Jänner 1943 bleibt weiter unbekannt. Erst im Jahr 2000 gibt das Britische Nationalarchiv das Dokument zusammen mit anderen Beständen frei. Der Wissenschaftler Stephen Tyas entdeckt es daraufhin und erkennt seine Bedeutung.

Zeitstrahl 1943 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Bertrand Perz, The Austrian Connection. Das Personal der Dienststelle des SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik im Distrikt Lublin, in: Philipp Rohrbach/Florian Schwanninger (Hrsg.), Beyond Hartheim, Innsbruck/Wien/Bozen 2019, 31–60