Linz in den 1910er- und 1920er-Jahren: In der „Schutzengel-Apotheke“ an der Linzer Promenade betreten Gäste einen dunklen Raum, der hinter einem Gitter versteckt ist, dem „Gadern“. An den Wänden hängen seltsame Gemälde und Andenken. Von der Decke baumelt ein weißer Handschuh. Den muss jeder Gast berühren, um in die Welt des „Gurgelwassers“ einzutreten.
So nennen die Gäste den Alkohol, den sie in der Apotheke bekommen. Im Mittelpunkt der Treffen steht der Apothekenbesitzer Josef Melichar, genannt „Sepp“. Er hat eine massige Gestalt, liebt Essen und Trinken und genießt das Leben. Seine Freunde finden, dass er Humor hat. Seine Trinkstube nennt er den „Giftgadern“. In der Apotheke verbringen er und seine Gäste feuchtfröhliche Abende.
Josef Melichar ist nicht nur Apotheker, sondern auch ein überzeugter Deutschnationaler. Mit Gleichgesinnten gründet er in Linz den „Turnverein Jahn“. Hier trainieren junge Leute, um für das „deutsche Volk“ zu kämpfen. Im letzten Jahrzehnt der Habsburgermonarchie sitzt Melichar außerdem im Linzer Gemeinderat. Er engagiert sich für die „Deutsch-Freiheitlichen“. Melichar und sein Kreis stehen in der Tradition des radikalen Antisemiten Georg Ritter von Schönerer, den sich auch Adolf Hitler zum Vorbild nimmt.
Melichars „Giftgadern“ bleibt viele Jahre lang ein beliebter Treffpunkt für deutschnationale Kaufleute, Politiker und Künstler. Hier trinken sie gemeinsam, politisieren und knüpfen Kontakte. Die Besucher schreiben auch ins Gästebuch. Die Einträge zeigen ihre nationalistischen Überzeugungen. Ein Gast notiert im April 1910: „Mein Glaube an die sich vollziehende Weltherrschaft des germanischen Blutes ist unerschütterlich.“ Andere Gäste grüßen sich mit „Heil“ und deutschnationalen Codes. Bei der Datierung des Eintrags demonstrieren sie ihre politische Zugehörigkeit, indem sie germanische Monatsnamen verwenden – zum Beispiel „Nebelung“ statt „November“. Statt von „Weihnachten“ sprechen sie vom „Jul-Fest“. Manchmal tragen sie Jahreszahlen ein, die sich auf einen „neuen“ germanischen Kalender beziehen sollen. Auch heute noch nutzen Neonazis gerne die „Germanen“ als Projektionsfläche für ihr Weltbild – oder verwenden eine eigene Zeitrechnung mit Hitlers Geburtsjahr als „Jahr Null“.
Felix Strasser
Der Beitrag wurde im Rahmen eines Seminars im Masterstudium Zeitgeschichte und Medien an der Universität Wien erarbeitet.
Evan Burr Bukey, „Die Patenstadt des Führers“. Eine Politik- und Sozialgeschichte von Linz 1909–1945, Frankfurt am Main/New York (1993).
Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration: Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie, Wien (2005).