Wien, 4. März 1926: Josef Bindeus besteigt einen Waggon am Wiener Ostbahnhof. Am Bahnsteig steht seine Familie und winkt. Dann fährt der Zug ab. An Bord sind 200 Männer: Arbeitslose Hilfsarbeiter, Bergarbeiter und Handwerker. Sie verbindet ein Ziel: Arbeit finden in Kasachstan.
Für die meisten Menschen sind die 1920er-Jahre gar nicht so „golden“, wie es die Bezeichnung nahelegt. Nach dem Ersten Weltkrieg verzweifeln viele auf der Suche nach Arbeit und können sich kaum über Wasser halten. Ein Teil von ihnen entscheidet sich schließlich zur Auswanderung. Aus Österreich gehen viele nach Brasilien, Argentinien oder in die USA. Die österreichische Regierung unterstützt die Auswanderung finanziell, denn sie will möglichst viele Arbeitslose und lästige Demonstrant:innen loswerden.
Josef Bindeus will auswandern, weil er seine Arbeit im niederösterreichischen Kohlebergbau in Grünbach am Schneeberg verloren hat. In Österreich kann er sich und seine Familie nicht mehr ernähren. Er schließt sich dem Verein „Republikanische Vereinigung ehemaliger Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer“ an. Ziel des Vereins ist es, die Auswanderung hunderter Menschen in die Sowjetunion zu organisieren. Die meisten Mitglieder sind ehemalige Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in russischer Kriegsgefangenschaft waren. Deshalb glauben sie, dass sie die Verhältnisse im Ankunftsland kennen und die Sprache ausreichend beherrschen.
1926 machen sie sich auf den Weg. Am Fluss Syrdar’ja in der Nähe der kasachischen Hauptstadt Kzyl-Orda gründen sie ihre Kolonie. Dort wollen sie die Steppe in Ackerland umwandeln und bewirtschaften. Dafür graben sie einen Bewässerungskanal. Trotzdem bleibt die erste Ernte weit hinter ihren Erwartungen zurück.
Schon ein Jahr später scheitert die Kolonie endgültig und löst sich auf. Das Land ist von Dornengestrüpp überwuchert und der salzige Boden ist unfruchtbar. Außerdem zerrütten innere Streitigkeiten die Kolonie. Einige Auswanderer kehren nach Österreich zurück und geraten als „Russland-Rückkehrer“ ins Visier der Nationalsozialisten. Andere bleiben in Kasachstan und geraten dort ins Visier der Stalinisten. Als Ausländer stehen sie unter Generalverdacht und werden verfolgt. Einige bezahlen ihre Suche nach einem besseren Leben sogar mit dem Tod: Sie werden als „Spione“ erschossen.
Josef Bindeus bleibt nach der Auflösung der Kolonie in Kasachstan und arbeitet im Bergbau. 1937 wird er ausgewiesen. Er muss die Sowjetunion verlassen und kehrt 1938 nach Österreich zurück – rechtzeitig vor dem Zweiten Weltkrieg:
Julia Carrera
Josef Vogl, Aufbruch in den Osten. Österreichische Migranten in Sowjetisch-Kasachstan, Wien 2019.