In Ottakring fliegen die Pflastersteine. Fensterscheiben gehen klirrend zu Bruch. Junge Männer demolieren Straßenlaternen, reißen Bänke aus den Parkanlagen und errichten damit Barrikaden. Eine Frau feuert sie an: „Nach der Fleischteuerung ist der Zucker, die Kohlen, der Spiritus teurer geworden. Es ist nicht mehr zum Existieren!“
Ein Wiener Arbeiter konnte früher dreimal in der Woche ein Stück Rindfleisch essen, jetzt kann er sich das nur noch einmal in der Woche erlauben. Die Wohnungsnot und die hohen Mieten verschärfen die Situation. Viele Menschen müssen daher als „Bettgeher“ leben. Sie zahlen stundenweise für einen Schlafplatz, weil sie sich mehr nicht leisten können. Die Vermieter der Bettgeher sind Arbeiterfamilien, die den kleinen Zuverdienst dringend zum Überleben brauchen.
Die Regierung tut nichts, um die Not zu lindern. Deshalb ruft die Sozialdemokratie zu einer Demonstration auf. Am 17. September 1911 ziehen fast 100.000 Menschen aus den Außenbezirken auf den Rathausplatz und vor das Parlament.
Nach dem Ende der Kundgebung bleiben einige tausend Demonstranten auf der Straße. Die Polizei beginnt, den Rathausplatz zu räumen. Berittenes Militär treibt die großteils jugendlichen Arbeiter gegen den Ring und dann aus der Innenstadt hinaus. Das macht die Menschen noch wütender. Sie sammeln sich im Bezirk Ottakring. Dort beschädigen sie Amtsgebäude und wehren sich mit Steinwürfen gegen die Staatsgewalt.
Aufstand der Jugend im Arbeiterbezirk
In Ottakring schließen sich weitere Jugendliche den Protesten an. Auch die Arbeiterfrauen helfen ihnen: Sie werfen Eisenstöcke, Biergläser und sogar Bügeleisen aus den Fenstern der Zinskasernen. Dem Militär gelingt es nicht die Straßen zu räumen, denn die Gruppen ziehen sich blitzschnell zurück, um sich an anderer Stelle neu zu formieren.
Die Kämpfe fordern 149 Verletzte. Vier Demonstranten werden vom Militär getötet. Einer der Toten wird mit dem Krankenwagen abtransportiert. Das hilft ihm natürlich nicht mehr, aber die aufgebrachte Menge soll nicht erfahren, dass das Militär einen Arbeiter getötet hat. Die Proteste dauern bis in die Nachtstunden an. Über Ottakring wird der Ausnahmezustand verhängt. Erst als die Truppen den Bezirk besetzen und abriegeln, gewinnt das Militär die Oberhand. Kavalleristen reiten vorbei an zerbrochenem Fensterglas, demolierten Straßenlaternen und Barrikaden.
Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. M./New York: Campus 1999.