Eine Frau mit Bubikopf, Bluse und Rock wäscht einem Mädchen die Hände in einer Waschschüssel. Hinter ihnen ein kleines Bett vor einer tapezierten Wand.  © ÖNB Bildarchiv

„Für die Frauen ist zu Hause nur Schicht­wechsel“: 

Frauen im „Roten Wien“

In den 1920er-Jahren treten Frauen mit einem neuen Selbstbewusstsein auf. Sie können politisch mitbestimmen und fordern gleiche Chancen. Aber die Realität hinkt dem modernen Frauenbild hinterher.

Wien, 1931: Eine 22-jährige Weberin beschwert sich: „Nicht dir du Geldprotz, gehört allein die Welt!“ Auch sie will in ihrer Freizeit Konzerte besuchen, mit ihrem Paddelboot Flüsse erkunden und mit ihren Skiern Berge besteigen. Der geringe Lohn, den sie verdient, reicht dafür nicht aus. Noch dazu lebt sie mit ihrer kranken Mutter zusammen und muss sich um sie kümmern.

Nach dem Ersten Weltkrieg gewinnt die Sozialdemokratie die Wahlen in Wien. Sie setzt Reformen um, die Frauen neue Möglichkeiten eröffnen. Öffentliche Kindergärten und Horte sorgen dafür, dass sie arbeiten gehen können. Moderne Waschküchen in den neuen Gemeindebauten erleichtern ihnen die Arbeit im Haushalt. Und in den vielen Sport- und Kulturvereinen können sie Körper und Geist trainieren. Damit verändert sich auch das Bild von der modernen Frau. Die „Neue Frau“ im Roten Wien ist selbstbewusst und mutig. Sie verdient ihr eigenes Geld. Für ihren Ehemann ist sie Kameradin, für ihre Kinder eine Freundin. Sie trägt kurze Haare und modische, bequeme Kleidung.

: Illustration mit dem Titel „Die Frau von heut“. Im Vordergrund steht eine Frau, selbstbewusst den Arm in die Hüfte gestützt, mit kariertem Rock, Kurzmantel und Hut. Eingerahmt wird sie von mehreren Abbildungen: Man sieht eine Frau am Schreibtisch, eine Frau beim Kugelstoßen, zwei Frauen auf Skiern am Berg, eine mit einem Kind und eine in Strandkleidung auf einem Holzzaun sitzend. © ANNO ÖNB
Im „Roten Wien“ prägt die Sozialdemokratie das Idealbild der „Neuen Frau“. © ANNO ÖNB

Das neue Frauenbild: Ein Ideal

1931 zieht die Sozialwissenschaftlerin Käthe Leichter Bilanz. Sie will wissen, ob Arbeiterinnen die neuen Möglichkeiten auch wirklich nutzen können. In einer Studie befragt sie über 1.300 Industriearbeiterinnen zu ihrem Alltag. Sie arbeiten in verschiedenen Fabriken und Betrieben, stellen Lebensmittel, Zigaretten und Chemieprodukte her, weben Stoffe oder nähen Kleider. Viele von ihnen müssen damit nicht nur sich selbst, sondern die ganze Familie ernähren. Trotzdem verdienen sie nur halb so viel wie ihre männlichen Kollegen. Da bleibt wenig Zeit und Geld für Freizeitaktivitäten. Nur jede dritte Befragte geht ab und zu ins Kino, nur jede fünfte betreibt irgendeinen Sport.

Frauen, die verheiratet sind und Kinder haben, betrifft das besonders. Nach der Arbeit müssen sie kochen, putzen und die Kinder versorgen. Die meisten Ehemänner leisten weiterhin keinen Beitrag im Haushalt. Eine Arbeiterin bringt es auf den Punkt: „Für die Frauen ist zu Hause nur Schichtwechsel.“

Die Studie zeigt: Das Idealbild der „Neuen Frau“ bleibt für viele Arbeiterinnen unerreichbar.

Um das zu ändern, schlägt Käthe Leichter eine Reihe von Maßnahmen vor. Es braucht bessere Berufsberatung und Ausbildung für Frauen und endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Hausarbeit soll gerechter verteilt werden. Leichter fordert außerdem den Ausbau von Kinderbetreuung und eine Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn, damit auch Frauen Freizeit haben und diese genießen können. 

Zeitstrahl 1854 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Marie-Noëlle Yazdanpanah, „Es lebe drum: Die Frau von heut!“ Frauenpolitik im Roten Wien, in: Werner Michael Schwarz, Georg Spitaler, Elke Wikidal (Hg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, 50–57. 

Käthe Leichter, So leben wir. 1.320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben, Wien 1932.