1936: Endlich Wochenende! Selma Burke schwingt sich auf ihre Harley-Davidson. Wohin geht es? Hauptsache raus aus Wien und irgendwohin ins Blaue. Jedes Wochenende erkundet sie auf ihrer Maschine „irgendeinen Teil von Österreich“. Die gebürtige US-Amerikanerin erinnert sich später: „Auf diesem Motorrad habe ich einige Aufregung verursacht, weil ich ja nicht nur schwarz war, sondern überhaupt: Die Vorstellung, ein Mädchen auf einem Motorrad zu sehen, war schon eine Sensation.“
Sie studiert gerade in Paris und an der Kunstgewerbeschule in Wien. Womit sie rechnen muss, zeigt zum Beispiel ein Artikel in der Zeitschrift „Der Wiener Film“. Dieses „Zentralorgan der österreichischen Filmwirtschaft” vermutet, dass es im Interesse von Schwarzen liegt, in Filmen als „Primitive“ dargestellt zu werden. Denn ihr Ansehen würde leiden, „wenn man sie der Primitivität beraubt“. Vorurteile gegen Schwarze haben eine lange Geschichte, doch seit den 1920er-Jahren steigt der Rassismus und wird radikaler.
In der Wiener Kunstszene hat sie Eindruck gemacht: Die Zeitschrift „Österreichische Kunst“ hält damals ihre Arbeit für „etwas Visionäres“ und weist auf die „absolute Sinnlosigkeit“ einer rassistischen Kunstvorstellung hin.
Zurück in den USA schafft Burke als Künstlerin den Durchbruch. Am bekanntesten ist ihr Porträt von Franklin D. Roosevelt. Es soll als Vorbild für den Kopf des Präsidenten auf der Zehn-Cent-Münze gedient haben. Außerdem porträtiert sie in ihren Skulpturen viele prominente Afroamerikaner:innen wie den Autor und Bürgerrechtler Booker T. Washington. Bis zu ihrem Tod im hohen Alter von 94 Jahren lebt sie in einer Künstlerkolonie in der Nähe der Großstadt Philadelphia.
Walter Sauer/Vanessa Spanbauer, Jenseits von Soliman, Afrikanische Migration und Communitybuilding in Österreich – eine Geschichte, Innsbruck/Wien 2022
Jules Heller, North American women artists of the twentieth century: a biographical dictionary, New York 1995