Eine Gruppe Frauen in festlicher Kleidung, einige mit Hut und Blazer, stehen nebeneinander und blicken in die Kamera. Dahinter ein Bahnsteig und eine Wiese.  © Wikimedia

Hei­ra­ten, um zu über­leben:

Schein­ehen im National­sozialismus

Das nationalsozialistische Regime verfolgt jüdische und politisch aktive Frauen. Wollen sie überleben, müssen sie fliehen. Einige gehen Scheinehen mit Ausländern ein, um Österreich verlassen zu können.

September 1938, Wien: Als Kommunistin mit jüdischen Wurzeln ist Anni nicht mehr sicher. Sie muss fliehen. Deshalb heiratet sie den Franzosen André. Verliebt ist sie nicht. In einem Brief aus dem französischen Exil nennt sie ihn „meinen offiziellen Ehemann“. 

Sie hat André auf einem internationalen Treffen der sozialistischen Jugendorganisation „Rote Falken“ kennengelernt. Die Ehe der beiden ist politisch motiviert: Durch die Eheschließung wird Anni französische Staatsbürgerin und kann über die Schweiz nach Frankreich einreisen. Dort ist sie im Widerstand aktiv und arbeitet in französischen Kinderheimen.

„Ehen auf Papier“

Viele Männer, die eine solche Scheinehe schließen, besitzen die britische, schweizerische oder französische Staatsbürgerschaft. Oder sie verfügen über ein Ausreisevisum. Durch die Heirat erhalten die geflüchteten Frauen den Schutz des Landes, dem ihr Ehemann angehört. Sie können nicht als staatenlos erklärt werden. Außerdem erleichtert ihnen ihr neuer Status, eine Anstellung im Aufnahmeland zu finden und in ein neues Leben zu starten. 

Im Nationalsozialismus ist Heiraten für die Staatsbürgerschaft eine Fluchtstrategie. © Wikimedia

Die Scheinehe schützt also in vielen Fällen vor der Verfolgung. Aber das Leben in einer solchen Ehe ist nicht einfach. Häufig haben die Frauen gleichzeitig Liebesbeziehungen und Kinder mit ihren eigentlichen Partnern. Wenn die Scheinehe auffliegt, können sie die Staatsbürgerschaft verlieren und in das nationalsozialistische Österreich zurückgewiesen werden. Das kommt einem Todesurteil gleich.

Auch Anni wird schwanger. Der Vater ihrer beiden Kinder ist Josef. Als Jude ist er vor den Nazis aus Österreich nach Frankreich geflohen. Ihn wird Anni später heiraten. Die Scheinehe von Anni und André wird nach Ende des Krieges und der Überwindung etlicher bürokratischer Hürden aufgelöst.

Josef wird als Vater ihrer beiden Söhne anerkannt. Anni, die während des Krieges im französischen Exil im Widerstand aktiv war, zieht nach Ende des Krieges wieder nach Wien. Bis 1976 bleibt sie jedoch französische Staatsbürgerin. Zu ihrem „Schein-Ehemann“ hat sie keinen Kontakt mehr.

Zeitstrahl 1938 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Simone Oremovic/Anna Friedler, Eine Scheinehe und eine emotionale Bindung an Frankreich über Generationen, in: Sabine Bergler und Irene Messinger (Hg.), Verfolgt. Verlobt. Verheiratet. Scheinehen ins Exil, Wien 2018, 72–81.