Alte Bücher mit zum Teil aufgeriebenen Kanten und Inventarnummern am Buchdeckel sind aufgereiht. Zwei Bücher im Vordergrund sind aufgeschlagen, Stempel sind sichtbar. Ein Titel lautet „Der Schilauf im Hochgebirge“, ein anderer „Wie lerne ich Schi-Laufen?“ © Marc Drews.

Faschismus: Angst vor Büchern,

Hass auf Menschen

Der Faschismus greift zuerst das Wissen an. So ist es heute in den USA, so war es in den 1930ern in Deutschland und Österreich. Die Nationalsozialisten verbrennen Bücher öffentlich, das Dollfuß-Regime beschlagnahmt und ‚säubert‘ Bibliotheken – darunter die des Vereins der „Naturfreunde“.

13. Februar 1934, Wien: Polizisten und 200 Heimwehrmänner marschieren vor dem Vereinshaus der „Naturfreunde“ in der Diefenbachgasse auf. Sie versiegeln alle Zimmer im Haus, sperren das Warengeschäft und beschlagnahmen 65.000 Schilling.

Nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 verbietet das austrofaschistische Regime die sozialdemokratische Partei und ihre Vereine. So ergeht es auch den „Naturfreunden“. An ihre Stelle tritt ein neuer Verein, der regimetreu ist: die „Bergfreunde“. Sie erhalten das Vereinshaus mit der Bibliothek. Die „Bergfreunde“ jubeln über die „größte alpine Fachbücherei Wiens“: 15.000 Bücher, Karten und Führer. Die ehemaligen Mitglieder gewinnen sie so nicht. Die boykottieren den Verein.

Faschismus in den Bibliotheken

Die Austrofaschisten beschlagnahmen auch die anderen Büchereien der Arbeiterbewegung. Sie tauschen das Personal aus – und die Bücher: Weg muss z. B. Emile Zolas berühmter Roman „Germinal“ über einen Streik von Bergarbeitern; oder Upton Sinclairs Enthüllungsroman „Dschungel“ über die Zustände in den Schlachthöfen Chicagos. Rund 27.000 Büchern geht es an den Kragen. Das Regime fürchtet, dass sie die Menschen auf falsche Ideen bringen. Die sollen lieber katholische Literatur und Heimatromane lesen, die Österreich feiern.

Die Austrofaschisten beschlagnahmen die Arbeiterbüchereien und entfernen deren Bücher. © ÖNB Bildarchiv, Arbeiterbücherei Margareten, 1933.

1936 überträgt das Regime die „Wiener Arbeiterbüchereien“ in Gemeindebesitz. Nach dem „Anschluss“ 1938 geben die Nationalsozialisten ihnen den Namen: „Wiener Städtische Büchereien“. Sie entfernen nun auch alle Werke jüdischer Autor:innen. Außerdem beseitigen sie Teile der Unterhaltungsliteratur. Erwünscht sind nationalsozialistische „Sachbücher“.

Die Bücher der „Naturfreunde“: Eine Irrfahrt geht erst im April 2025 zu Ende

Die Bibliothek der „Naturfreunde“ gerät an den Reichsverband für deutsche Jugendherbergen, der die Bücher an seine Mitglieder verteilt. Viele dieser Bücher landen schließlich bei einem Altwarenhändler. Dort kauft ein Wiener Buchhändler ein: Er erwirbt 200 Kilogramm aus dem ehemaligen Bestand der „Naturfreunde“.

Zwischen 1940 und 1943 kauft hier wiederum die Universität Wien einige Bände für die Fachbibliothek Sportwissenschaft. 21 dieser Bücher hat die Bibliothek bis heute in ihrem Bestand. Seit Jahren beschäftigt sich die Universitätsbibliothek mit bedenklichen Erwerbungen aus der NS-Zeit. Ein Forschungsteam hat daher auch den Irrwegen der „Naturfreunde“-Bücher nachgespürt. Im April 2025 erhält sie der Verein zurück, schenkt sie aber der Universitätsbibliothek. Sie sollen dort zugänglich bleiben – und daran erinnern, dass die Beseitigung von Büchern für Diktaturen nur ein erster Schritt ist.

Im Austrofaschismus beschlagnahmte Bücher, die dank Forschung an den Verein „Naturfreunde“ zurückgegeben werden konnten. © Marc Drews.

 

Julia Carrera

Seit 2004 betreibt die Universität Wien NS-Provenienzforschung. Das heißt, die Bestände der Universitätsbibliothek aus den Jahren 1938 bis 1945 werden auf bedenkliche Erwerbungen überprüft. Damit schafft die Universität Wien Klarheit über unrechtmäßige Bestände aus NS-Raubgut und kann diese gegebenenfalls restituieren.

Weitere Infos findet ihr hier: https://bibliothek.univie.ac.at/provenienzforschung.html

Zeitstrahl 1933 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Gunnar Mertz, Die Bücher des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ in der Universitätsbibliothek Wien. In: Markus Stumpf (Hg.): „Haben wollen!“ 20 Jahre NS-Provenienzforschung in den Bibliotheken, Archiven und Sammlungen der Universität Wien. Vienna University Press/V&R Unipress/Brill 2025 (=Bibliothek im Kontext 7), in Vorbereitung für November 2025.

Gisela Kolar, Ein „Vorspiel“. Die Wiener Arbeiterbüchereien im Austrofaschismus, Diplomarbeit, Universität Wien 2008.