Die Zeichnung zeigt den Anstaltsball in der Psychiatrie Steinhof. Mittig tanzen ein Mann im Frack und eine Frau im Abendkleid und mit Hochsteckfrisur. Links im Vordergrund steht eine Frau alleine. Sie sieht etwas verloren aus. Rechts und im Hintergrund befinden sich weitere Menschen in Abendkleidung. Manche stehen und schauen herum, andere tanzen. Die Ballbesucher:innen sind teilweise karikativ überzeichnet. Unter der Zeichnung steht: „Der erste Ball in der Landes-Irrenanstalt am Steinhof“. © © Anno, Neuigkeits-Welt-Blatt, 12.2.1908.

Tanzball statt Wegsperren.

Ein neuer Umgang mit psychisch Kranken?

Die moderne Welt macht „nervös“. Das kann jeden treffen – auch Wohlhabende. Diese Angst treibt um 1900 Reformen in der Psychiatrie an. Als in Wien die Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ den Betrieb aufnimmt, bringt sie Fortschritt. Und zeigt dessen soziale Grenzen.

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8. Februar 1908, am Stadtrand von Wien: Der Journalist Rudolf F. kämpft sich durch eine stürmische Winternacht – vorbei an einem großen Friedhof und einen Hügel hinauf. Dort sieht er hell beleuchtete Fenster. Leise ist Musik zu hören. Er fühlt sich wie der Held eines Schauerromans und will zugleich Fortschritt erleben. Sein Ziel ist ein Ball „Am Steinhof“. Dieser soll eine offenere Behandlung von psychisch Kranken zeigen.

Ab 1907 leben in der Heil- und Pflegeanstalt tausende Patient:innen. Steinhof ist damals die größte Einrichtung dieser Art in Europa. Der berühmte Architekt Otto Wagner will durch die Gestaltung der Anlage eine menschenwürdige Behandlung sicherstellen: Zwar wird das Gelände von Mauern umschlossen, aber seine Größe soll das Gefühl von Eingesperrtsein verhindern. Die Patient:innen werden auf Pavillons verteilt. Man trennt Frauen und Männer, die „Ruhigen“ von den „Unruhigen“ und die Heilbaren von denen, die als unheilbar gelten. Das soll den „Ruhigen“ mehr Freiheit ermöglichen. Als wichtiges Heilmittel gelten Arbeit und Beschäftigung. Für Unterhaltung sorgt ein „Gesellschaftshaus“.

Die Heil- und Pflegeanstalt Steinhof ist sehr weitläufig und gehört zu den größten in Europa. © Wien Museum, Luftbild der Anstalt am Steinhof, 1919.

Die Anstalt teilt die Patient:innen auch in arm und reich ein. Für die Zahlungskräftigen dient das Sanatorium. Hier sieht es aus wie in einem noblen Urlaubsort. Es gibt Billard- und Rauchsalon, Tennisplatz, Hallenbad und ein eigenes Kurhaus. Wohlhabende Menschen fürchten, dass private Kliniken ihre Kundschaft auf Dauer behalten wollen und sich daher zu wenig um Heilung bemühen. Darauf reagiert das Angebot des Sanatoriums in der öffentlichen Anstalt.

Wenn Patient:innen reich genug sind, bietet die Psychiatrie am Steinhof ihnen luxuriöse Räumlichkeiten und ein ansprechendes Unterhaltungsprogramm. © Wien Museum, Festsaal der Anstalt am Steinhof, um 1907, CC BY 4.0.

Als Journalist Rudolf F. den weißen Saal im Gesellschaftshaus betritt, sieht auf den ersten Blick alles aus wie bei jedem Ball. Doch es ist ihm wichtig, dass er die „echten Gäste“ von den Patient:innen unterscheiden kann, die in der Anstalt wohnen.

Rudolf F. sieht einen Grafen im grünen Rock und einen Offizier „mit melancholischem Blick“. Für ihn hat der Journalist besondere Sympathie. Ein Mann geht wichtig im Saal auf und ab. Der „Charakterkopf“ ist der ehemalige Sekretär eines berühmten Schriftstellers. Eine Dame gibt einem Tanzpaar energische Ratschläge. Sie ist eine frühere Gouvernante.

Rudolf F. stellt zwar fest, dass die Pfleglinge aus „allen Ständen“ kommen. Ihn interessieren aber vor allem die aus Adel und Bürgertum. Schon bei ihrer Gründung achtet die Anstalt „Am Steinhof“ darauf, den Bedürfnissen von Wohlhabenden entgegenzukommen, die für ihresgleichen eine bessere Behandlung erwarten.

Allerdings ist die Anstalt von Beginn an überbelegt und das Personal knapp. So sieht der Alltag für die meisten Patient:innen weniger nach einem Fest aus – schon lange bevor die Anstalt im Nationalsozialismus zum Ort eines Massenmordes an Kranken wird.

 

Der Beitrag basiert auf Recherchen von Melanie Hofstätter im Rahmen eines Seminars im Masterstudium Zeitgeschichte und Medien an der Universität Wien.

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