Eine Gruppe von Männern geht am Straßenrand entlang. Auf der Kleidung tragen die Männer helle Sterne. Vorne geht ein Soldat in Uniform. Rechts im Bild stehen einige Passant:innen. Die Straße ist von Häusern gesäumt.  © Wikimedia, Bundesarchiv, Bild 101I-138-1083-31, Rudolf Kessler, Kolonne von Juden mit aufgenähten Judenstern und Spaten unter Bewachung von Wehrmachtssoldaten beim Marsch durch die Stadt, CC-BY-SA 3.0.

Deutsche Lebensgeschichten

und die Kunst, KZ-Häftlinge zu „übersehen“

Anna Meissner muss für die Nazis im Konzentrationslager Reichenbach Zwangsarbeit leisten. Jeden Tag sieht die ganze Stadt die Zwangsarbeiter:innen auf ihrem Arbeitsweg – und behandelt sie wie Luft.

Es ist ein Sommertag im Jahr 1944. In Reichenbach im Eulengebirge (heute: Dzierżoniów in Polen) bietet sich jeden Morgen das gleiche Bild: Von Soldaten umringt bewegen sich jüdische Zwangsarbeiter:innen auf eine Fabrik des Konzerns Telefunken zu. 

Das Unternehmen produziert Funk- und Radaranlagen für die deutsche Kriegsführung. Nach vielen Stunden harter Arbeit werden die Arbeiter:innen wieder in das KZ Reichenbach zurückgetrieben.
Im KZ Groß-Rosen werden während der Zeit des Zweiten Weltkriegs zehntausende Menschen ermordet. © Wikimedia, Gordon Roemhild, Eingangstor des KZ Groß-Rosen, CC-BY-SA-4.0.
Telefunken stellt im Zweiten Weltkrieg Radargeräte für die Wehrmacht her. © Wikimedia, Bundesarchiv, Bild 101I-621-2930-32/Walther, Telefunken-Radargerät „Würzburg“ im Einsatz bei der Wehrmacht, 1942, CC-BY-SA 3.0.

Anna Meissner ist eine der Zwangsarbeiterinnen. Anfangs blickt sie auf ihrem Weg in die Fabrik nur vor sich auf den Boden. Sie hat Angst aufzuschauen. Dann aber macht sie es trotzdem und beobachtet die Menschen am Straßenrand. Sie bemerkt, dass alle Menschen ihren Kopf abwenden und woanders hinblicken, sobald die Zwangsarbeiter:innen kommen. Die Menschen wollen vermeiden, dass sie die jüdischen KZ-Häftlinge direkt ansehen müssen. Die zählen für sie nicht als Menschen, die man beachten soll. Gleichzeitig wollen sie nicht Zeug:innen des Verbrechens sein, das vor ihren Augen passiert. Sie wollen später sagen können, dass sie nichts gesehen haben – und damit meinen sie: Wir haben nichts gewusst!

Schrittweise Entmenschlichung

Seit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bereiten Ausgrenzung und Verdrängung die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vor. Schritt für Schritt werden die Maßnahmen radikaler und verändern die Wahrnehmung. 

Die Forscherin Gabriele Rosenthal hat in den 1980er-Jahren Interviews mit Deutschen verschiedenen Alters geführt, in denen sie über die NS-Zeit und den Krieg erzählen. Rosenthal fällt auf: Wenn ihre Gesprächspartner:innen über die Anfangszeit der NS-Herrschaft berichten, behandeln sie Jüdinnen und Juden öfters noch als Personen mit individuellem Charakter. Nach und nach verschwinden sie aber aus der erzählten Geschichte als eigenständige Individuen. Sie kommen nur mehr als „die Juden“ vor. Das Novemberpogrom 1938 erscheint nur mehr als Sachschaden. Das Leid der Menschen ist kein Thema. Die Deportationen werden von den Interviewten gar nicht erwähnt. Nur wer Hilfe leistete, erzählt davon.

Als Jüdinnen und Juden schließlich als Zwangsarbeiter:innen wieder im Reichsgebiet auftauchen, wollen die Menschen nichts von ihnen wissen. Deshalb schauen sie demonstrativ weg. Aber sie wissen ganz genau, was passiert. Anna Meissner überlebt als einzige aus ihrer Familie den Holocaust.

Hinweis: Der Passage liegt ein Interviewauszug zugrunde, der nur den Nachnamen der Erzählerin nennt. Wir nennen sie hier Anna.

Zeitstrahl 1944 © wasbishergeschah.at