Anna Meissner ist eine der Zwangsarbeiterinnen. Anfangs blickt sie auf ihrem Weg in die Fabrik nur vor sich auf den Boden. Sie hat Angst aufzuschauen. Dann aber macht sie es trotzdem und beobachtet die Menschen am Straßenrand. Sie bemerkt, dass alle Menschen ihren Kopf abwenden und woanders hinblicken, sobald die Zwangsarbeiter:innen kommen. Die Menschen wollen vermeiden, dass sie die jüdischen KZ-Häftlinge direkt ansehen müssen. Die zählen für sie nicht als Menschen, die man beachten soll. Gleichzeitig wollen sie nicht Zeug:innen des Verbrechens sein, das vor ihren Augen passiert. Sie wollen später sagen können, dass sie nichts gesehen haben – und damit meinen sie: Wir haben nichts gewusst!
Schrittweise Entmenschlichung
Seit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bereiten Ausgrenzung und Verdrängung die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vor. Schritt für Schritt werden die Maßnahmen radikaler und verändern die Wahrnehmung.
Die Forscherin Gabriele Rosenthal hat in den 1980er-Jahren Interviews mit Deutschen verschiedenen Alters geführt, in denen sie über die NS-Zeit und den Krieg erzählen. Rosenthal fällt auf: Wenn ihre Gesprächspartner:innen über die Anfangszeit der NS-Herrschaft berichten, behandeln sie Jüdinnen und Juden öfters noch als Personen mit individuellem Charakter. Nach und nach verschwinden sie aber aus der erzählten Geschichte als eigenständige Individuen. Sie kommen nur mehr als „die Juden“ vor. Das Novemberpogrom 1938 erscheint nur mehr als Sachschaden. Das Leid der Menschen ist kein Thema. Die Deportationen werden von den Interviewten gar nicht erwähnt. Nur wer Hilfe leistete, erzählt davon.
Als Jüdinnen und Juden schließlich als Zwangsarbeiter:innen wieder im Reichsgebiet auftauchen, wollen die Menschen nichts von ihnen wissen. Deshalb schauen sie demonstrativ weg. Aber sie wissen ganz genau, was passiert. Anna Meissner überlebt als einzige aus ihrer Familie den Holocaust.
Hinweis: Der Passage liegt ein Interviewauszug zugrunde, der nur den Nachnamen der Erzählerin nennt. Wir nennen sie hier Anna.