Ein Innenhof wird von fünfstöckigen Hausblöcken gesäumt. Im Hof befindet sich eine kleine Wiese mit einem Baum.  © Wien Museum, Wohnhäuser in der Penzinger Straße, Martin Gerlach, 1926.

Nachbar in Wohnungs­not

Proteste gegen Zwangs­räumungen nach dem Ersten Weltkrieg

Am Ende des langen Krieges sind die Armen noch ärmer als zuvor. Die Mieten dürfen zwar seit einigen Jahren nicht mehr erhöht werden. Viele können trotzdem nicht zahlen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Wenn die Polizei anrückt, um Mieter:innen auf die Straße zu setzen, protestieren die Nachbar:innen – oft mit Erfolg.

18. September 1920 in Wien: Rudolf Maurer soll aus seiner Wohnung in der Braunhirschgasse geschmissen werden. Um 9 Uhr morgens betritt der Wohnungskommissär von Penzing das Haus, um die Zwangsräumung durchzusetzen. Maurer wehrt sich, denn er hat Angst: Wohnungen in Wien sind knapp und er will nicht auf der Straße landen. Deshalb versperrt er die Tür und lässt den Kommissär auf dem Flur stehen
Um 1900 fürchten viele Menschen, dass sie die Miete nicht mehr bezahlen können und auf der Straße landen. © Wikimedia, Zwangsräumung in Charlottenborg, 1892.

Dass es für Maurer ernst wird, bekommen auch die anderen Mieter:innen im Haus mit. Sie wollen die Zwangsräumung verhindern und fordern, dass ihr Nachbar in der Wohnung bleiben darf. Vor allem vermitteln sie so den Behörden: Falls die Polizei versucht, Rudolf Maurer mit Gewalt aus der Wohnung zu holen, werden sie nicht still zusehen – sondern protestieren. Und tatsächlich: Aus Angst vor größeren Ausschreitungen lassen die Behörden ihr Vorhaben fallen. Rudolf Maurer kann vorerst in der Wohnung bleiben.

Gemeinsam protestieren

Die Geschichte von Rudolf Maurer ist eine von vielen ähnlichen Fällen. Wenn bekannt wird, dass eine Wohnung zwangsgeräumt werden soll, versammeln sich oft Nachbar:innen vor der Tür und protestieren – so lange, bis die Polizei wieder gehen muss. Sich gemeinsam gegen Zwangsräumungen zu wehren ist damals nicht ganz neu: Um 1900 ist Wien eine Stadt der Wohnungsnot und der Wuchermieten. Die meisten Menschen leben in kleinen und schlechten Wohnungen und stehen dauernd unter Druck. Bei Kündigung der Wohnung müssen die Leute oft innerhalb von wenigen Tagen ausziehen. Viele haben Angst, dass sie die nächsten sein könnten, die ihr Dach über dem Kopf verlieren. Wenn in der Nachbarschaft, dem „Grätzl“, eine Zwangsräumung ansteht, laufen daher die Menschen zusammen, um sie zu verhindern. Bei Erhöhungen der Mieten demonstrieren sie. Frauen spielen dabei die tragende Rolle.

Sie verstehen den gemeinsamen Protest als ihre einzige Chance, denn die Hausbesitzer:innen haben fast unbegrenzte Macht über ihre Mieter:innen. Das ändert sich erst 1917, als der Erste Weltkrieg die Menschen plagt. Die kaiserliche Regierung hat Angst davor, wie die Menschen reagieren würden, wenn Familien von Frontsoldaten ihre Wohnung verlieren. Sie friert daher die Mietpreise ein und beschließt einen Schutz vor Kündigungen. Auch nach Ende des Krieges bleibt der Mieterschutz bestehen. Die Zeiten sind schlecht, die Arbeiterschaft hat in der neuen Republik mehr politischen Einfluss als je zuvor und das Bürgertum fürchtet die Revolution. 1922 stärkt schließlich ein umfassendes Mietgesetz die Rechte der Mieter:innen.

Zeitstrahl 1920 © wasbishergeschah.at

Weiterführend:

Michael John, „Kultur der Armut“ 1890–1923 in Wien. Zur Bedeutung von Solidarstruktur, Nachbarschaft und Protest, in: zeitgeschichte, 20/5/6 (1993), 158–186.