Mit schnellen Schritten geht Marie Jahoda die Straße entlang. Gerade kommt sie von einem heimlichen Treffen mit einer sozialistischen Untergrundzelle. Sie ist nervös: Verstohlen dreht sie sich um. Jeder Mann, der hinter ihr geht, könnte ein Polizist sein – und sie festnehmen.
Seit 1933 tagt in Österreich kein Parlament mehr. Die christlich-soziale Partei hat eine Diktatur errichtet: Sie erlaubt keine Wahlen mehr und drangsaliert ihre politischen Gegner:innen. Als es im Februar 1934 zum Bürgerkrieg [KO1] zwischen der christlichsozialen „Heimwehr“ und dem sozialdemokratischen „Schutzbund“ kommt, verbietet die Regierung die Sozialdemokratische Partei und lässt Tausende verhaften. Die verbliebenen Sozialdemokrat:innen fliehen ins Ausland oder verlegen ihre politische Arbeit in den Untergrund.
Gefährliches Doppelleben
Marie Jahoda ist eine von ihnen. Als Forscherin war sie an der bahnbrechenden Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal” beteiligt. Diese beschäftigt sich mit den Menschen in einer niederösterreichischen Siedlung, die von einer Textilfabrik gelebt hat – bis die Fabrik in der Weltwirtschaftskrise zusperrt.
Als die Diktatur beginnt, arbeitet Marie Jahoda tagsüber weiterhin in der „Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle”. Nachts organisiert sie heimlich den Widerstand gegen das Regime: Auf Wanderungen im Wienerwald und in Kaffeehäusern weist sie neue Mitglieder für die Arbeit in der Widerstandsgruppe ein. Sie organisiert geheime Treffen und Übernachtungsmöglichkeiten für politisch Verfolgte. Einmal wirbt sie einen Spitzel an, der sich unerkannt bei den Christlichsozialen einschleust und heimlich deren Informationen an die Widerstandsgruppe weitergibt. Jahoda lebt in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Schließlich passiert, was sie seit Jahren fürchtet: Sie arbeitet gerade an ihrer Forschung, als fünf Polizisten das Büro betreten und sie verhaften.
Hunderte Frauen werden wie Marie als politische Gegnerinnen in Wiener Gefängnisse gesperrt. Oft dürfen sie sich wochenlang nicht waschen. Weil die Gefängnisse durch die vielen Verhaftungen massiv überbelegt sind, breiten sich Krankheiten und Ungeziefer aus. Unzählige Wanzen leben in den Gefängnis-Zellen. In der Nacht fallen sie von der Decke auf die schlafenden Frauen herunter, die in der Früh mit juckenden Bissen aufwachen.
Bei Maries erster Gefängnis-Mahlzeit schwimmen Würmer in der Erbsensuppe. Sie weigert sich, davon zu essen – und wird zum Gefängnis-Leiter gebracht, der ihr „Hungerstreik“ vorwirft. Marie erklärt ihm, dass sie die Suppe nur deshalb nicht isst, weil darin tote Tiere schwimmen. Darauf antwortet er: „Wenn wir Ihnen anständiges Essen gäben, hätten wir bald die ganze Einwohnerschaft von Wien hier drin.“
Jede Nacht wird Marie verhört. Stundenlang muss sie stehen, während grelles Licht in ihr Gesicht scheint. Die Polizisten versuchen eine üble Täuschung:
Nach einigen Monaten kommt Marie frei – unter der Bedingung, dass sie Österreich sofort verlässt. Im Juli 1937 flieht sie nach London, wo sie fortan lebt. Marie hat Glück im Unglück: Aus ihrer Heimatstadt vertrieben entgeht sie der Verfolgung durch die Nazis, die wenige Monate später in Österreich beginnt. Auch Maries Tochter überlebt im Ausland.